1.
Welchen Sinn macht es, ein unglückliches Leben zu führen? Mein Leben hat nach meinen Wünschen zu verlaufen. Das verlange ich einfach. Ich dulde es nicht, dass Unangenehmes die Sonne meiner Lebensfreude verdunkelt. Schließlich ist das Gefühl des Glückes eine Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss. Ab und zu hat es Situationen gegeben, die mir zuwider waren. Doch ich habe das Blatt immer gewendet, zu meinen Gunsten. Sechsundsiebzig Jahre bin ich jetzt alt und wer weiß, wie lange mich der Herrgott noch hier wandeln lässt. Es ist keine Frage, ob ich sterben werde, die Frage ist, ob ich die Umstände dieses Ereignisses noch verbessern kann. Wie werde ich vor der langen Reihe meiner Ahninnen stehen, wenn ich das große Tor durchschritten habe? Die Männer meiner Vergangenheit fürchte ich nicht, sie sind mir egal. Was werden die Frauen mich fragen? Werden sie mich willkommen heißen? Werden sie sich von mir abwenden? Nein, das werden sie nicht tun! Ich habe meine Sache gut gemacht! Werden sie mich fragen, warum ich dieses oder jenes so entschieden und getan habe? Werden sie schon alles wissen? Jedenfalls ist die lange Kette des familiären Fortbestandes nicht in meiner Generation abgerissen. Ich habe einen Sohn zur Welt gebracht, die Tochter war mir nicht vergönnt. Das gibt mir die Hoffnung - fast schon die Gewissheit - im Jenseits eine von ihnen zu sein. Wie wird es sich anfühlen, wenn ich meine liebe Mutter endlich wieder an mein Herz drücken werde? Wir werden uns anschauen und uns kaum merklich zuzwinkern. Sie und ich wissen, dass alle Frauen dieser Blutslinie aus dem gleichen Holz geschnitzt waren und sind.
Ich bin wie meine Mutter. Sie hat alles für ihre Familie getan. Das war jedenfalls ihre Überzeugung. Doch in Wahrheit tat sie es weniger für ihre Angehörigen. Sie hatte ihr eigenes Wohl im Sinn. Sie hat mich diese Kunst gelehrt. Sie hat mir beigebracht, wie man es anstellt, dass das Haus voll ist, das selbst die erwachsenen Kinder lieber im Elternhaus bleiben, als eigenständig zu werden.
Ich selbst habe es erleben dürfen, als Erwachsene noch, unter Mutters Fürsorge zu stehen. Ich hätte nichts anderes gewollt. Sie hat mich auch gelehrt, wie man es anstellt als Seniorin von der Familie nicht abgeschafft zu werden. Sie war mir eine weise Lehrmeisterin.
Die erste Voraussetzung dazu ist ein Haus, in dem jeder ein bequemes und repräsentatives Auskommen hat. Außerdem muss dieses Haus Begehrlichkeit bei anderen wecken. Das Wichtigste ist aber, dass es einem uneingeschränkt gehört, unantastbar. So war es bei allen meinen Vorfahrinnen. Das Haus wurde traditionsgemäß immer von der Hausherrin an die Lieblingstochter vererbt. Alle anderen in der Erbfolge mussten sich abfinden lassen. Nun gehört die Villa mir.
Sie steht, nach Süden ausgerichtete, am oberen Elbhang im östlichen Dresden. Als einer meiner Vorfahren sie erbaute, gehörte der Ort – nein besser - das Dorf - Loschwitz noch nicht zur Stadt. Am linken Elbufer standen einige Fachwerkhäuser, in denen Fährleute, Waschfrauen, Fischhändler und Fuhrwerksbesitzer lebten. Barfüßige Kinder und räudige Katzen suchten nach interessanten Dingen, die das Rinnsal Trille in die Elbe spülte. Es roch nach Asche und Spülwasser und die Katzen hatte mehr Erfolg als die Kinder. Hinter dem schmalen Ufer der Elbe erhob sich das Plateau des Hochlandes. Steil und felsig, nicht zu gebrauchen für die Landwirtschaft. Wein baute man an. Das ging einigermaßen, doch es war zu wenig, um davon leben zu können. Mancher bot Fremdenzimmer an, denn es war ein hübscher Ort. Maler kamen und Wanderer. Sie priesen diese Gegend. So kaufte sich mancher ein Weinbergchen, obwohl er gar kein Winzer war. Loschwitz wurde Mode! Es wurde der Ort, an dem die Höflinge des Dresdner Hofes, der Goldschmied des Königs, die Kammerherren seiner Majestät und die königliche Verwandtschaft ihren Sommersitz hatten. Einer aus des Königs Gefolge war mein Urahn.
In diesen Weinbergen standen erst kleine Hütten – die Unterstände für die Gerätschaften, die man für ihre Arbeit brauchte. Die Winzer stiegen für die Pflege der Rebstöcke viele, viele Stufen den Hang hinauf. In schweren, vollen Körben wurden die geernteten Trauben diese Stufen wieder hinuntergetragen, zu den Pressen in den Weinkellern. Eine lange Tradition von Winzern hatte sich entwickelt - bis die Reblaus kam. Böse Zungen behaupteten, die Reblaus wäre in einer Kutsche, im Gepäck eines Spekulanten, angereist. Es sollen Weidenkörbe gewesen sein, in denen man die befallenen Weinstöcke transportiert hatte. Meine Mutter zwinkerte mir damals auf ihre unvergleichliche Art zu, als sie mir diese Geschichte erzählte. Dann flüsterte sie: „Diese Körbe haben lichterloh gebrannt, als man sie verschwinden ließ.“
Außerdem wurde es zu jener Zeit schick, Bier zu trinken. Die Winzer haben sich leichten Herzens von den nutzlos gewordenen, steilen Hängen getrennt. So ein Glück für uns. Es dauerte wenige Jahrzehnte und aus der ländlichen Gegend wurde der nobelste Vorort der Residenzstadt Dresden. Die Pracht vergangenen Wohlstandes macht diese Gegend noch immer einzigartig. Doch die Menschen haben sich verändert. Als ich ein Kind war, gaben sich die Leute hier ganz anders. Ich bin aufgewachsen zwischen Männern, die die Hüte zogen, wenn sie einander begegneten. Frauen traten nur vor die Tür, wenn sie gut frisiert waren und auch sonst einen untadeligen Anblick boten. In allen Häusern arbeiteten Dienstboten, die mit gesenktem Blick die Anweisungen ihrer Lohngeber entgegennahmen und mit einem Knicks oder einem Diener die Aufträge bestätigten. So weit ging es mit der Ergebenheit in unserem Haus nicht, doch auch wir hatten Personal. Ich vermisse diese Lebensart und die galante Höflichkeit so sehr, die meine Mutter so wunderbar beherrschte. Ich vermisse die Distanz der Herrschaften zu den banalen Tagesangelegenheiten. Alles hatte seine Ordnung, seinen Rang und darauf konnte man sich verlassen. Als Kind hatte ich das Gefühl, als ob mit dem Erreichen des Seniorenalters die Krone der Würde auf den weißen Haaren wuchs. Niemand wagte an den Worten der Großeltern zu zweifeln. Was sie sagten, war immer wahr und richtig. Manchmal zweifle ich jetzt, ob das alles wirklich so gewesen ist. Vielleicht habe ich es nur geträumt. Wie kann sich die Welt in so wenigen Jahrzehnten dermaßen verändern, ja geradewegs Kopf stehen?
Wenn ich mich umschaue in meiner Nachbarschaft, werde ich traurig. Ich glaube, ich bin die letzte Greisin, die noch in Freiheit lebt. Wo sind sie alle hin, die würdevollen Alten, die mit silbernen Griffen an ihren Gehstöcken in den Kaffeehäusern der Stadt saßen und ihre Pensionen und Dividenden mit Sherry oder Torte verprassten? Wo sind die häkelnden und stickenden Großmütter, die ihren Enkeln Geschichten erzählten, während diese auf den gepolsterten Bänkchen zu ihren Füßen saßen? Wer lehrt die Kinder jetzt Manieren, Anstand, Herzensbildung? Ich bin wohl die Letzte dieser ausgestorbenen Gattung. Man hat sie abgeschafft.
Jetzt schieben die Alten einen Rollator vor sich her, um die letzten kleinen Notwendigkeiten, die ihre Existenzen noch bedingen, selbst zu erledigen. Sie schlucken Schmerztabletten und besorgen allein, was nötig ist. Nur niemandem zur Last fallen, oder auf der Tasche liegen, nichts brauchen, nichts wollen. Keiner soll ihnen verpflichtet sein, das ist ihr eigenes Bestreben. Die Kinder haben doch alle selbst mit sich zu tun. So schieben sie die luftbereifte Kapitulation ihrer finalen Lebenshoffnung vor sich her. Natürlich ist damit die Zeit ihrer Mobilität ein wenig verlängert, doch wozu? Wo liegt die Freude dieses Lebens? Darin, das Enkelkind Ostern und Weihnachten mit einem Geldschein anzulocken? Zu sehen, wie es auf der Stuhlkante sitzt und auf den Augenblick wartet, dass es wieder gehen darf? Wo ist die Eintracht, die Loyalität in der Familie geblieben? Wie sehr hat es meine Mutter geliebt, wenn ich ihr die Haare kämmte. Als ich Kind war, fragte sie mich immer beim Kämmen: „Zöpfe oder Dutt, Haarkranz oder Ohrenschnecken?“ Dann frisierte sie mit aller Mutterliebe und ich habe es genossen. An dieses Gefühl erinnerte ich jedes Mal wieder, wenn ich ihr die Bürste durch die dünnen Haare zog. Sie herzurichten war für mich keine Arbeit, es war ein Augenblick der Innigkeit. Mit welch verschwörerischer Heimlichkeit habe ich sie auf die Toilette begleitet. War sie sich doch einstmals nicht zu schade, mir die Benutzung der Toilette beizubringen. Es ist kein Lebensabend, den man heutzutage den Senioren gönnt. Die Angehörigen haben sie vor der Zeit in den Wartesaal auf dem Bahnhof des letzten Zuges gesetzt. Sie verabschiedeten sich mit den Worten: „Ich gehe dann mal und lebe mein Leben. Du bist ja hier gut versorgt, bis es für dich Zeit wird.“ Niemand weiß, wann dieser Zug endlich kommt und die Erlösung bringt.
Es gibt nur einen Grund ein solches Leben zu führen: Der Trotz, möglichst lange die Pensionsansprüche abzufordern. Bei mir ist das anders, dafür habe ich gesorgt.
Mein Leben war von Anfang an auf Rosen gebettet, doch es waren Rosen voller Dornen. Es gab Licht und Schatten. Das Licht habe ich gelebt, in Schattenzeiten habe ich die Augen geschlossen und von den Zeiten des Lichtes gezehrt.
Als ich drei Jahre alt war, begann der zweite Weltkrieg. Anfangs war für mich diese Tatsache so elementar, wie das Wetter. Die Erwachsenen sprachen über den Krieg, wo immer sich Gelegenheit bot. Man berichtete von Leuten, die gefallen waren und von anderen, die nun ebenfalls eingezogen wurden. Ich hörte es und in meiner Vorstellung sah ich die gefallenen Leute auf dem Boden liegen, die über ein Hindernis gestolpert waren. Die Eingezogenen versuchten mittels Muskelkraft die Bauchwölbung nach innen zu ziehen. Was diese Leute im Feld oder an der Front taten, ahnte ich nicht. Der Soldat hat ein Gewehr, weil das zu seiner Uniform gehört, dachte ich. Wenn die Sirenen heulten und wir alle uns beeilten, in den Keller eines Nachbarhauses zu laufen, hielt ich das für ein Spiel. Jeder wollte der Erste sein, doch es gab keinen Preis für den Sieg. Nur die Letzten wurden mit Bemerkungen wie: Das wurde aber auch Zeit, gescholten. Ich war schon immer ein schlechter Esser und so war es keine Entbehrung für mich, dass die Teller nur wenig gefüllt waren. Schlimm waren für mich eher die Festtage, an denen reichlich gegessen wurde. Mein Magen meldete meistens schon beim Anblick des Essens, dass er satt sei. Den Hunger und die Lebensmittelknappheit habe ich nie gespürt. Krieg war etwas, dass ganz weit draußen in der Welt stattfand und eine große Faszination auf die Erwachsenen ausübte, denn wenn sich zwei trafen, gab es kein anderes Thema. Ganz zum Schluss kam der Krieg dann doch noch nach Dresden. Danach kam die Zeit in der man sich schämte, wenn es einem ein wenig besser ging als den verhungerten Flüchtlingen unten in der Stadt, die auch hier nicht wirklich willkommen waren. In meiner Erinnerung bestand die Stadt ausschließlich aus Trümmern und Schutthaufen. An den Zustand davor hatte ich keine Erinnerung. Als wir Kinder dann wieder Unterricht hatten, führte mein Schulweg hinunter in den Ortskern von Loschwitz. Auch dort war die Welt noch weitgehend in Ordnung. Doch wenn ich auf meinem Schulweg morgens, bei Dunkelheit, auf die Stadt jenseits der Elbe sah, ahnte ich das Grauen jener Februarnacht. Dunkelheit lag über den Trümmern. Leere Fensterhöhlen, hinter denen das Zimmer fehlte, gaben den Blick in den Himmel frei. Besonders schauderhaft war es, wenn der Mond hell schien. Wer weiß, wie viele Gebeine noch unter den Trümmern der zerbombten Häuser lagen und darauf warteten, bestattet zu werden. An manchen Stellen stieg Rauch auf. Ein Zeichen dafür, dass zwischen all dem Chaos Menschen einen Unterschlupf gefunden hatten. Unser Haus war unbeschadet geblieben und so empfand ich, was ich sah, als surreal, als unwirklich. Ich ließ das Leid der Menschen jenseits der Elbe nicht an mich heran. Erst viel später begriff ich das Ausmaß dieses Elends.
In dieser Zeit schlossen meine Mutter und ich ein stillschweigendes Bündnis für alle Zeiten. Wir erkannten unsere Seelenverwandtschaft. Wir musizierten oft miteinander und vermieden es, das Haus zu verlassen. Wenn wir dem Anblick des Elends nicht entfliehen konnte, sagte Mama: „Schau nicht hin, Kind. Das war Gottes Wille.“
Nach dem Krieg, ich war inzwischen neun, bedrohten die Russen unser Familienleben. Die Eltern bangten, das Haus zu verlieren. Im Nachbarhaus hatten sich diese groben Uniformträger bereits einquartiert und alles, was sie fanden, für ihre Zwecke verwendet. Sie verbrannten wertvolle Möbel, um auf diesem Feuer eine erbärmliche Mahlzeit zu bereiten. Sie soffen den Weinschatz der Nachbarn in einer Nacht aus, den man über ein Jahrhundert gesammelt hatte. Dann spien sie und urinierten im Garten. Sie machten sich einen Spaß daraus, in die Luft zu schießen, um mich zu erschrecken, wenn sie mich sahen. Ich rannte dann so schnell ich konnte ins Haus. Von draußen hörte ich ihr grölendes Gelächter. Meine Eltern waren damals der Meinung, dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann die Besatzung wieder abrückt und alles so wird, wie es einst war. Sie sollten Recht behalten, nur in den Zeiträumen täuschten sie sich. Die Russen blieben. Ich weiß nicht, wie mein Vater es anstellte, doch wir behielten das Haus. Alle Nachbarn mussten Flüchtlinge aufnehmen. Wir nicht. Sicher wären meine Eltern mit uns Kindern in den Westen gegangen, wenn wir die Villa verloren hätten. So blieben wir. Wir arrangierten uns mit den Roten und schlugen uns politisch durch. Weder ideologische Anpassung noch Gegenwehr waren je meine Sache. Ich hatte meinen Eigensinn und meine Erziehung, meine Mutter und das sorgenfreie Leben einer jungen Dame aus gutem Haus.
Streit gab es selten, weder in meiner Jugend, noch als Erwachsene. Ich hielt die Zügel des familiären Einflusses fest in meinen Händen. Wie man das anstellt, lernte ich von Mama und es war wohl die größte Gabe, die ich von ihr erhielt, neben dem Haus natürlich. Es obliegt den Frauen, Entscheidungen zu treffen. Männer wollen kämpfen, sich messen, sich reiben. Wie untauglich für Familienangelegenheiten! Da sind andere Fähigkeiten gefragt.
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